MARTIN WILLING

BEWEGTE KUNST

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Eröffnungsrede von Juliane Rogge:

„Martin Willings Werke muss man erleben.

Sie sehen, um sie herum gehen, ihren Raum wahrnehmen. Zeit mit ihnen teilen. Auf sie einwirken, sie wirken lassen. Man muss sie erleben, weil sie selbst zu leben scheinen. Dies ist ein Zauber, der auch dann nicht verloren geht, wenn man ihn ergründet, und deshalb wage ich, ihn zu ergründen:

Diese Werke muten lebendig an, weil sie eine der wichtigsten Bedingungen für’s Lebendig-Sein erfüllen: Die Reizbarkeit. Reizbarkeit, das heißt Lebewesen sind fähig, auf chemische oder physikalische Änderungen in ihrer Umwelt zu reagieren, so sagt es das Lexikon, sagen wir: Martin Willings Werke reagieren auf ihre Umgebung und vor allem: auf den Menschen in ihrer Nähe. „Die plastische Antwort auf das Dasein menschlicher Nähe“ nennt Burkhard Leismann sie in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog.

Läuft man vorbei, fangen die Werke beim leisen Beben des Bodens an zu schwingen. Berührt man sie sacht, beginnen sie zu tänzeln. Trifft sie ein Lufthauch, heben und senken sie sich wie der atmende Brustkorb.

Es sind Bewegungen, die wir mit menschlichen Verben beschreiben: keine mechanischen. Es sind Bewegungen, die denen von Menschen, Tieren, vor allem auch Pflanzen nahekommen, es sind Bewegungen der Natur. Ihre Geschwindigkeit, ihre Komplexität, ihr Rhythmus erinnern nicht an Maschinen, Fahrzeuge oder andere angetriebene Dinge der industriellen Welt, sondern an natürliche, körperhafte Bewegungen.

Und ebenso werden diese Kunstwerke auch nicht bewegt, sondern bewegen sich eher von selbst. Die Energie dazu kommt aus ihnen selbst: aus ihrem Material und ihrer Form.

Beides gibt ihnen Martin Willing: Das Material ist bei ihm stets Metall, aber genauer müsste man sagen: die Materialien sind Metalle: Titan, Duraluminium, Chrom-Nickel-Federstahl und andere – Edelmetalle mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften, mit denen Martin Willing sich in jahrzehntelanger, geduldiger und konsequenter Arbeit vertraut gemacht hat. Sie unterscheiden sich etwa in Dichte, Gewicht, Härte, Oberfläche und auch Farbe. Diese Materialien behandelt Martin Willing durch und durch konkret: alle Eigenschaften, lässt der Künstler unverfälscht und bestmöglich zutage treten.

Material und Form sind aufeinander abgestimmt: Die Form schafft der Künstler mit dem Material. Er bringt das Material in eine Form, aber es trägt seinen Teil bei. Es trägt seine Eigenspannung bei. Martin Willing wirkt darauf ein, lässt seine Energie in monatelanger handwerklicher Arbeit einfließen, schreibt sie ein. Er bringt das Material in eine Form, aus der sich Bewegung realisieren kann. Er spannt die Drähte und Bänder vor, damit sie der Schwerkraft begegnen können – besonders faszinierend und einleuchtend vielleicht am Kubus zu beobachten.

Und dies ist noch so ein Zauber, der beim Ergründen nicht abnimmt, sondern sogar wächst: der Weg von der Idee, dem imaginären Kunstwerk zum real vorhandenen. Die Handzeichnungen erlauben uns einen Blick auf den Beginn des Entstehungsprozesses. Skizzenhaft ist hier die Vorstellung in kleinen AN- und Aufsichten notiert, mindestens ebenso viel Raum wie der bildliche nimmt aber der mathematische Entwurf ein: Komplexeste Berechnungen sind direkt neben den Ansichten notiert – mit Leichtigkeit, so scheint es. Den hohen Rang des Materials belegen Notizen auch hierzu auf den Skizzen – und zum technischen Vorgehen – „kann man nur fräsen!“ ist zB zu lesen. Martin Willings Werke wirken so makellos, so gleichmäßig, dass man unwillkürlich eine industrielle Fertigung vermutet, irgendwelche Maschinen müssen diese langen sich verjüngenden Drähte gezogen haben, irgendwelche Pressen die Bänder in Form gebogen haben. In der Tat aber entstehen sie unter den Händen des Bildhauers, unter Zuhilfenahme selbst erdachter und eigenhändig gebauter Geräte, hydraulischer Apparate, spezieller Werkzeuge. Mithilfe selbst geschriebener Computerprogramme errechnet der Künstler CAD-Abwicklungen und Vorspannungsformen, die ihm genaue Anweisungen für das In-Form-bringen liefern: Dieses komplizierte, da dreidimensionale Formen dauert lange – oft sehr lange – und geschieht durch Löten, Schweißen, Kanten und Biegen. Die vollendeten Werke machen – dem Material passgenau entsprechend allerdings den Eindruck, „aus einem Guss“ zu sein.

Im Unterschied zu kinetischen Objekten, wie wir sie auch von Carlernst Kürten kennen, kommen die elastischen Objekte von Martin Willing ganz ohne Gelenke oder Scharniere aus. Und ohne energieliefernde Motoren: ihre Bewegung realisiert sich aus dem Kunstwerk selbst heraus. Auch die Bewegung ist konkret. Eine unerschöpfliche Energie wohnt den Werken inne und wartet nur darauf, wieder und wieder zur Äußerung gebracht zu werden.

Mit bloßem Auge kann man beobachten, wie die Schwingungen durch das Material laufen. Verfolgt man sie, so wird die Form und ihr Aufbau in eindrücklicher Weise offenbar. Die Bewegung verändert auch die Form, wir können nicht mehr von einer Kugel oder einem Kubus, von starren geometrischen Formen sprechen. Es realisieren sich dann ganz neue, ständig sich verändernde Körper. Die Bewegung schafft auch plastische Form: sie lässt die Skulpturen buchstäblich den Raum erobern. Eher zweidimensionale Werke wie etwa „Quadratschnitt, übereck, vertikal“ (hier) oder „Bewegte Fläche, horizontal“ (im letzten Raum) – flach wie ein Din A4-Papier – bewegen sich in die dritte Dimension.

Die Spannung zwischen der „geometrisch definierten Form“ [1] des Objektes im Stillstand und der „formschöpferischen Bewegung“ [2] ist ein zentrales Merkmal der Arbeiten. Vor allem aber geht es Martin Willing darum, die „Grenze zwischen ‚Stabilität der Form‘ und […] ‚Ausreifung der Bewegung‘“[3] auszuloten. Der Raum und seine Eroberung ist das große, traditionsreiche Thema der Bildhauerei. Aber Martin Willings Werke erobern auch die vierte Dimension, die Zeit. In der Bewegung sind diese beiden Kernthemen Raum und Zeit verknüpft.

Bei seinen Werken ist der Künstler stets auf der Suche nach einer Form, die es erlaubt, der Grenzlänge, d.h. der langsamsten Schwingung, so nah wie möglich zu kommen. Sasa Hanten-Schmidt schrieb in ihrem Beitrag zum Werkverzeichnis, Martin Willing suche „mit seiner Kunst gleichsam das, was zwischen Ruhe und Bewegung vorstellbar ist, zu dehnen.“[4] In der Beobachtung seiner Werke bekommen wir eine Ahnung davon, was es heißen könnte, die Zeit selbst zu dehnen, zumindest in unserer Wahrnehmung“.

[1] Bleyl 69.

[2] Bleyl 69.

[3]Brinkmann 1991, S. 10.

[4] Hanten-Schmidt 2010, S. 47.